RÜCKBLICK UND KRITIK
Der 1. Mai in Leipzig und die Ignoranz gegenüber ostdeutschen Verhältnissen
Der 1. Mai 2022: In Zwickau demonstrierte der Dritte Weg, mehrmals wurde die Anreise der Gegendemonstrant:innen angegriffen. Schon in den Wochen zuvor gab es ein sehr akutes Bedrohungsszenario für Zwickauer Antifaschist:innen. Normalerweise ein klassischer Grund für eine große Mobilisierung aus Leipzig zum Gegenprotest. Die Genoss:innen aus Zwickau, die sich ohnehin schon die restlichen 364 Tage im Jahr mit Angriffen durch Neonazis konfrontiert sehen, an diesem Tag nicht alleine zu lassen, sollte doch eigentlich der Fokus der Leipziger Linken sein. Denn was gerne vergessen wird: Leipzig steht nicht isoliert da – wenn Sachsen brennt, brennt es hier auch.
Stattdessen fanden in Leipzig an dem Tag zwei größere, konkurrierende Demonstrationen statt. Die Rote Wende traf sich am Augustusplatz, zeitgleich sammelte sich das Solidaritätsnetzwerk mit einigen anderen Splitterorganisationen am Südplatz. Diese Demos waren eine erste Zurschaustellung der neu gewonnenen Stärke autoritärer Kommunist:innen in der Stadt, die lange den Ruf einer “antideutschen Hochburg” hatte.
Dieser Text soll ein Beitrag zur Reflektion über die veränderte Situation in Leipzig und unsere Prioritäten und Aufgaben als radikale Linke sein. Wir möchten die immer größere Präsenz Roter Gruppen 1, sowie das nachlassende Bewusstsein für die Zustände im Leipziger Umland kritisieren. Und wir werden darauf eingehen, was das Eine mit dem Anderen zu tun hat.
In Sachsen brennt es schon seit einer ganzen Weile. Neonazis, Faschist:innen und andere Reaktionäre haben sich Räume erkämpft, ihre Strukturen gefestigt, Strategien geändert und haben nun nicht mehr “nur” die Macht auf der Straße. Sie sind zweitstärkste Kraft im Parlament und können bei passenden Anlässen Hunderte oder Tausende mobilisieren – stets im Rückgriff auf weit verbreitete Einstellungen wie Elitenfeindlichkeit, Antimodernismus und Antisemitismus, Obrigkeitsdenken oder Rassismus. Das, verbunden mit einem diffusen Gefühl der Unzufriedenheit (und einem geradezu krankhaften Drang montagabends spazieren zu gehen), macht es den Rechten in Sachsen leicht. Beispiele gibt es viele, hier eine Liste mit sächsischen Städten, in denen es in den letzten Jahren rechte Angriffe oder Aktionen gab: de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_St%C3%A4dte_und_Gemeinden_in_Sachsen.
Bis jetzt schlägt sich Leipzig als linksliberaler Leuchtturm im dunkelsten Deutschland noch recht gut. Es gibt einige Stadtteile mit eher linker Hegemonie, etablierte alternative Strukturen und die Möglichkeit, politische Themen außerhalb von Antifaschismus zu bearbeiten. Dieses Resultat langjähriger Kämpfe wird viel zu oft als Selbstverständlichkeit behandelt. Es kann wieder verloren gehen, wenn nicht aktiv für seine Erhaltung gekämpft wird.
In den letzten Jahren sind viele Menschen aus Westdeutschland nach Leipzig gekommen, die oft Ursachen und Folgen des rechten Konsens 2 im Osten nicht kennen. Der starke Zuzug nach Leipzig hat die Szene und besonders ihr kollektives Bewusstsein verändert. Prägungen, die junge Linke in Ostdeutschland erfahren haben und die sich auch Jahre später noch in ihren politischen Einstellungen und Prioritäten widerspiegeln, hat mittlerweile wohl die Mehrheit der Szene nicht mehr. Daraus entsteht leider oft eine Ignoranz für den Ort und die Situation, in der die eigenen Kämpfe stattfinden. Dieser Ort ist nicht nur Leipzig, er ist Leipzig in Sachsen in Ostdeutschland.
Die ostdeutsche Realität bedeutet für hier lebende alternative, linke, queere und migrantische Personen ein Leben in ständiger Angst vor rechten Angriffen. Organisierte und unorganisierte rechte Gewalt ist überall und alltäglich, vor allem da, wo Menschen zusammenkommen: beim Fußball, auf dem Stadtfest, in der Dorfdisko. Bestärkt werden die Rechten durch eine Bevölkerung, die wegschaut. Alle kennen mittlerweile die Geschichten aus den Baseballschlägerjahren: Der gruselige Osten voll marodierender Stiefelnazis, die alle umhauen, die ihnen über den Weg laufen. Im Vergleich dazu scheint es heute fast angenehm, doch der Schein trügt. Die AfD stellt die zweitstärkste Kraft im Landesparlament, in vielen Gemeinderäten geben Rechte den Ton an. Die Rechten beherrschen also große Teile Sachsens mittlerweile auch ganz ohne unmittelbar physische Gewalt – und natürlich kommt es trotzdem Woche für Woche zu neuen Übergriffen3.
Während sich völkische Siedler:innen mit ihrer Strategie rechter Landnahme im sächsischen Hinterland immer weiter ausbreiten und Strukturen schaffen, ist die Zahl alternativer, antifaschistischer Projekte und Orte in den letzten Jahren zurückgegangen. So stark, dass wohl viele neonazistische Angriffe gar nicht mehr bekannt werden. Hier zeigt sich das erfolgreiche Zusammenspiel von parlamentarischer und unmittelbarer Gewalt: Rechte müssten das AZ gar nicht mehr selbst angreifen (was sie allerdings dennoch tun). In Zusammenarbeit mit SPD, Grünen und CDU werden sämtliche Fördergelder für alternative Bildungs- und Kulturprojekte gestrichen und ab und zu mal das Ordnungsamt oder die Cops vorbeigeschickt. Irgendwann geht auch dem widerständigsten Projekt so die Puste aus und dafür kann man wirklich niemanden kritisieren.
Es zeigt sich, was das “Leipziger Bündnis gegen Rechts” 1996 zurecht als “rechten Konsens” in Sachsen bezeichnet hat: Antifa und linke Politik im Osten ist fast immer Politik gegen die Masse der Bevölkerung. Diese Masse der Menschen, das „Volk“, ignoriert und bekräftigt sowohl direkt als auch indirekt die Rechten. Abseits der Ballungszentren gibt es immer noch kaum zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen rechte Umtriebe. Für Antifas im Osten galt ein positiver Bezug auf die Masse oder gar das “Volk” daher nie als erstrebenswert. Denn wenn hierzulande die Massen auf die Straße gehen, dann weil sie von Ressentiments getrieben werden. Das ist der Grund, weshalb sich Antifas im Osten in den antideutschen Standpunkten der Neunziger wiedergefunden haben – entsprechend ist diese Strömung in der Ostlinken meist präsenter als im Westen gewesen.
Hier ist der Punkt, an dem die Roten Gruppen wieder ins Spiel kommen. Wir kritisieren sie in vielerlei Hinsicht für ihren autoritären Kommunismus und sind der Überzeugung, dass ihre Ideologie unseren Vorstellungen freier gesellschaftlicher Verhältnisse widerspricht. Darum soll es hier aber nicht gehen. Vielmehr geht es um die Punkte, in denen die Ideologie der Roten Gruppen den Erfahrungen der ostdeutschen Antifabewegung widerspricht und die zeigen, dass ihr vermehrtes Auftreten linke (Antifa-)Arbeit im Osten nur noch mehr erschwert und weiter zurückwirft.
Ein wichtiger Anteil orthodox-kommunistischer Ideologie ist der durchweg positive Bezug auf das Proletariat und auf die damit identifizierten “Volks-”Massen, auch dann wenn sich dieses gar nicht als Proletariat sondern als Deutsche versteht. Das Proletariat ist für sie grundlegend gut, da es das revolutionäre Subjekt ist und wird höchstens durch äußere Verführung faschisiert4. Eigentliche Täter:innen sind in dieser Theorie Finanzkapital und Imperialismus. Das zeigt, wie notwendig für Linke in Deutschland die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen des Nationalsozialismus ist. Deshalb lassen sich die praktischen Erfahrungen der ostdeutschen Antifa kaum mit den Ansichten der Roten Gruppen vereinen. Statt Antifaarbeit als Kampf gegen die schweigende und unterstützende Masse, wollen sie dieses “Volk” unter der eigenen roten Fahne organisieren.
Entsprechend wird am 1. Mai nicht nach Zwickau gefahren und sich auch sonst nicht groß für die antifaschistische Arbeit in den sächsischen Kleinstädten und Dörfern interessiert. Im Gegenteil: In einem Podcast freut sich der Redner der RWL noch darüber, dass ja in Leipzig keine Nazis auflaufen würden. Das zeigt nochmals die Ignoranz gegenüber den Zuständen im sächsischen Wasteland und die Begrenztheit des eigenen politischen Blicks. Antifa ist hier höchstens noch ein Mittel, um mit dem Chic der Militanz junge Leute anzusprechen, was seit geraumer Zeit sehr gut in Connewitz zu beobachten ist 5.
Unterordnung unters Kollektiv, keine hinreichende Kritik des Nationalsozialismus und eine auf Macht und Stärke angelegte Selbstinszenierung ihrer politischen Arbeit – trotzdem oder auch gerade deshalb sind die Roten Gruppen in Leipzig auf dem aufsteigenden Ast. Sie verstärken den Trend der Abkopplung der Politik in Leipzig vom Umland und sie ignorieren linke Ideengeschichte der letzten Jahrzehnte, sei es feministische Theorie, Kritik des Marxismus-Leninismus oder die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Dadurch kommen die Roten Gruppen zu vergleichsweise einfachen Lösungen und können eine realistisch wirkende Alternative (Spoiler: it isn’t) zu den düsteren Aussichten für die Linke hierzulande geben.
Wenn nicht konsequent gegen reaktionäre Strömungen in der Gesellschaft vorgegangen wird, werden diese immer die Oberhand gewinnen. Zu dieser Aufgabe gehört die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte – sowohl der linken Bewegung als auch der Deutschlands. Und wenn das am Ende bedeutet, dass wir mit unserer Kritik alleine da stehen, dann ist das bedauerlich. Aber das Falsche wird durch das Ignorieren der Widersprüche nicht besser, nur weil es dadurch ins eigene, vermeintlich revolutionäre Konzept passt. Der Nationalsozialismus muss abseits überholter Faschismustheorien erklärt und verstanden werden, die Geschichte der DDR muss aufgearbeitet werden, genauso wie die antisemitischen Verbrechen der westdeutschen Linken seit der 68er-Bewegung6. Menschen, die in Sachsen politisch aktiv sein wollen, müssen sich mit den Erfahrungen der ostdeutschen Antifabewegung auseinandersetzen und die Baseballschlägerjahre nicht nur als Reservoir für Gruselgeschichten sehen. Die linke Bewegung in Leipzig muss wieder nicht nur Zufluchtsort, sondern auch Ressource für linke Individuen und Projekte in der sächsischen Peripherie sein. Wir brauchen weder eine Abwendung von antifaschistischer Arbeit im Hinterland noch eine Rückkehr zur kräftezehrenden Feuerwehrpolitik vergangener Jahre. Ignoranz kann nicht die Antwort auf Frustration sein.
Und übrigens: Westdeutschland ist auch nur anders Scheiße.
Spätestens die Intifada-Rufe auf der FightforyourFuture-Demo am ersten Juni sind für uns ein weiteres Zeichen der neu gewonnenen Stärke dieser Roten Gruppen. Sie zeigen somit auch die Notwendigkeit auf, dass jene, die es ernst meinen mit dem Anspruch eine linke emanzipatorische7 Bewegung sein zu wollen, wieder aktiv werden müssen, um die Entwicklung der Szene nicht einfach hinzunehmen. An dieser Stelle danken wir den Organisator:innen der Demo dafür, zumindest im Nachhinein noch klaren Widerspruch gezeigt zu haben. Ob und wie der 1. Mai noch einen eigenen kämpferischen Gehalt hat oder zu reiner Revolutionsfolklore verkommen ist, ist bei uns noch Diskussionsgegenstand.
Wir hoffen sehr auf eine breite Diskussion innerhalb der Szene.
Schreibt uns gerne an unsere Mailadresse kappa-leipzig@riseup.net. Unseren PGP-Schlüssel findet ihr hier.
Den Text als schicke PDF findet ihr hier.
- Als Rote Gruppen bezeichnen wir Organisationen wie Rote Wende, SDAJ, Revolution, Solinetzwerk und Internationale Jugend. Bei aller Differenz vereint sie eine orthodox-marxistische Ideologie, die über die Glorifizierung der Arbeiter*innenklasse jegliche Kritik an dieser vermissen lässt, sich also nicht mit der Reproduktion kapitalistischer und patriarchaler Sozialisation in selbiger beschäftigt. Rote Gruppen treten häufig aggressiv und dominant gegenüber anderen Linken auf. Ihre Ideologie weist mindestens antisemitische Versatzstücke auf, häufig sind die Gruppen auch offen israelfeindlich. Intern sind sie hierarchisch organisiert. Der Zusammenhalt der Gruppe beruht dabei nicht auf den individuellen Bedürfnissen ihrer Mitglieder, sondern auf Gehorsam gegenüber den Kadern. ↵
- Andere haben bereits viel über die speziellen Erfahrungen ostdeutscher Antifas geschrieben. Hier exemplarisch ein Artikel aus der Phase 2 ↵
- https://darg.parcours-bildung.org/ & raa-sachsen.de/support/chronik ↵
- Hier zeigt sich die mangelhafte Analyse des Nationalsozialismus unter orthodoxen Marxist:innen. Ihn nicht beim Namen zu nennen, sondern als Faschismus zu bezeichnen, verschleiert die antisemitische Dimension des NS und damit auch die Notwendigkeit grundlegender Kritik am deutschen Volk. ↵
- Ein ähnliches Muster findet sich auch bei feministischer Arbeit: Die Revolutionären Frauen (Untergruppe der Roten Wende) veranstalten ausgerechnet am Tag des fundamentalistischen Schweigemarschs in Annaberg-Buchholz ihr sogenanntes Klassenfest. ↵
- 6) Beispiele für antisemitische Verbrechen der westdeutschen Linken sind der versuchte Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin anlässlich einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht oder die Entführung eines Air France-Flugs durch zwei palästinensische Kämpfer der PFLP-EO, sowie zwei deutsche Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ) im Jahr 1976 zur Gefangenenerpressung. Dabei sortierten in Entebbe (Uganda) die beiden deutschen RZ-Mitglieder alle israelischen, sowie vermeintlich jüdischen Geiseln aus und hielten diese fest, während alle anderen freigelassen wurden. Unter den Geiseln befand sich auch eine Holocaustüberlebende. Nach vier Tagen in Gefangenschaft konnten die Geiseln von einem Kommando des israelischen Militärs befreit werden. Eine kritische Auseinandersetzung innerhalb der westdeutschen Linken mit diesem antisemitischen Terrorakt blieb bis in die 90er Jahre fast völlig aus. ↵
- emanzipatorisch: Für uns eine Bezeichnung, die den Kampf für die Überwindung des Kapitalismus mit dem Ziel eines herrschaftsfreien und gemeinschaftlichen Zusammenlebens verbindet. Die Freiheit vom Arbeitszwang, die Überwindung des Patriarchats und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums sind dabei für uns zentral. ↵